Die Sache mit dem "Du" und dem "Sie"
Ich bin immer wieder damit konfrontiert ob ich geduzt oder gesiezt werde möchte oder wie ich mein Gegenüber anspreche. Es ist eine sehr persönliche Einstellung. Ich mag das "Sie" mit seinem respektvollen Abstand. Das "Du" muss für mich passen und ist keine Ansprache für Alles und Jeden.
Ich bin noch dabei die Speisekarte zu lesen, da steht auf einmal das „Du“ vor mir. Breit grinsend, die Arme in die Hüfte gestreckt und viel zu nah. Mein neuer Chef hat nach einem Jahr das Leitungsteam zum Essen eingeladen (echt nett). Jetzt beschreibt er, wie wohl er sich mit uns fühle, und da er aus der Forschung käme, wo sich alle duzen, bietet er uns das „Du“ an. Ich zögere, ich mag das etwas zurückhaltende „Sie“, das immer etwas Abstand hält, respektvoll. Aber schon werden Hände geschüttelt und Vornamen ausgetauscht.
Ich habe seit ich meine erste Stelle in einer psychosomatischen Klinik angetreten habe, keinen meiner Chefs bzw. Chefin geduzt. Es war klar: Der Chefarzt wird gesiezt und unter den Kollegen wurde geduzt. Ich bin heute noch mit meinem ersten Chef in Kontakt und nach gut 20 Jahren immer noch beim „Sie“, was sich für mich stimmig anfühlt.
Im Umgang mit Patienten war und ist das „Sie“ für mich kompromisslos. Es definiert die therapeutische Beziehung als Arbeitsbeziehung. Für manche Patienten ist es oft das erste Mal, daß sie erleben, daß wertschätzend mit ihnen umgegangen wird. Da entsteht dann auch mal das Gefühl einer Freundschaft. Dies aufzulösen ist nicht immer einfach und das „Sie“ dabei sehr hilfreich.
Schwierig war es für mich, als ich meine Stelle als leitende Psychologin angefangen habe. Ich habe lange überlegt wie ich mit meinem Team umgehe und welche Ansprache ich möchte. Wie gesagt, ich mag das respektvolle, aber auch zugewandte „Sie“, welches auch den "Tanzbereich"[¹] seines Gegenübers akzeptiert. Also wurde es das „Sie“. In unserer Klinik haben sich die einzelnen Teamleiter sehr unterschiedlich entschieden. Ein Kollege hat ein "Du/Sie"-Mischmodell. Ein für mich fragwürdiges und unklares Modell. Eine andere Kollegin kam aus dem Team und hatte deshalb alle geduzt. Ich bin am Anfang als sehr streng wahrgenommen worden. Im Zusammenspiel mit einer großen Transparenz und Wertschätzung gegenüber dem Team hat sich dies mit der Zeit gegeben. Mittlerweile haben wir das Sie mit dem Vornamen kombiniert. Auch dies noch eine Spielvariante des „Sie“.
Im privaten Bereich merke ich, dass ich zunehmend genervt bin, wenn ich z.B. von Verkäufern geduzt werde. Ich möchte Abstand und kein Eindringen in meinen Tanzbereich (wer jetzt sofort Wassermelonen im Sinn hat, ist wohl in meinem Alter). In den sozialen Medien kann ich mich auch gut auf ein „Du“ einlassen, wenn ich gefragt werde. Wenn bei einer Veranstaltung das „Du“ als Umgang miteinander definiert wird, dann passt das für mich auch. Oder, wenn in einem bestimmten Bereich z.B. unter Motorradfahren und in Motorradwerkstädten das „Du“ usus ist, auch kein Problem. Ich möchte jedoch in den meisten Situationen gerne entscheiden können welche Variante ich bevorzuge. Ich mag es, den Spielraum, den uns die deutsche Sprache in dieser Beziehung gibt, auszunutzen.
Aus diesem Grund werde ich Sie, die meinen Blog lesen weiter mit „Sie“ ansprechen. Ich hoffe daß Sie sich damit wohlfühlen werden.
Duze ich jetzt meinen Chef? Ja, ich konnte mich dem Gruppendruck nicht entziehen, und da wir uns oft als gesamtes Team treffen hätte es sich sowieso eingeschlichen. Ich habe ihm jedoch unter vier Augen gesagt, daß ich es als sehr ungewohnt empfinde und wie meine Einstellung ist.
[¹] Dein "Tanzbereich" - Mein "Tanzbereich": Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an den Film "Dirty Dancing", wo es in einer Szene um den richtigen Abstand zum Tanzpartner geht.